Nächstes Jahr wird sie 90 Jahre – sehe ich in den Akten. Ein Lob auf klare Zahlen. 1928 lässt sich gut rechenen.

Aber heute ist sie es nicht. Heute liegt sie wegen „Herzklabuster“ im Krankenhaus  und soll von mir ein Kontroll EKG geschrieben bekommen.

Der 89. Geburtstag naht in wenigen Tagen und wir plaudern ein wenig, während ich ihr ein EKG schreibe.

Ich plaudere gerne dabei. Die Arbeit ist Routine. Das geht so „nebenher“ und fast unbemerkt. Und wenn die Datenübertragung mal länger dauert (Die Digitalisierung ist längst nicht so optimiert wie alle immer sagen), macht das gar nichts. Wir plaudern.

„Haben sie war geplant? Feier oder Tür zu?“

„Ach – gehn sie mir weg mit Feiern. Ich bin froh, wenn ich meine Ruhe habe. Udn außerdem weiß man ja nie, was der neue Tag in meinem Alter bringt.“

„Das stimmt.Aber sie sehen nicht aus, als wüssten Sie nicht auch das Leben  zu feiern.“

Der allumgreifende Pflegeblick hat erfasst: Das Haar ist hübsch onduliert, die Haut gepflegt, der Blick wach und mit einem gewissen Schalk im Auge, die Nägel an Hand und Fuß tiptop. So sieht keine aus, die immerzu gerne ihre Ruhe hat.

„Vielleicht kommen meine Urenkel. Ich hab acht!“

„Holla!“

„Ja – dabei hat es ganz klein angefangen. Ich hatte nur eine Tochter. Sie bekam drei Kinder. Und die alle zusammen acht Urnenkel.“

„Das ist ja wie beim Stammvater Abraham. Damals, als er die Sterne zählen musste um zu erfahren, wieviele Nachfahren er bekommen wird. Während seine alte Frau Sara sich daheim grämte, weil sie immer noch keine Kinder bekommen hatte.“

Sie kichert. Sie kennt die biblische Geschichte scheinbar auch.

„Genauso!“

Nun heißt es ja immer, Religion sei wie ein Penis. Privatsache. Hübsch versteckt in der Hose. Damit wedelt man nicht in der Öffentlichkeit herum. Und wenn man sich die Welt so anschaut, ist das vielleicht nicht unbedingt die schlechteste Idee. Vor allem „Penisvergleiche“ sind erschreckend ohne Ende – um mal bei diesem Bild zu bleiben, wenn man die derzeitige Weltlage betrachtet.

Gleichwohl glaube ich, dass ein Glaube  oder Spiritualität  zum Wesen des Menschen gehören. Die Frage nach dem „Woher“ und „Wohin“, nach einem Sinn treibt sie/uns alle an. Und oft habe ich es erlebt, wie  aus Atheisten betenden Menschen wurden bei einem Aufenthalt im Krankenhaus und einer erschreckenden Diagnose.

Die einen beten, andere suchen ihr Heil in Chiasamen und Yoga.

Religion und Glaube – an was auch immer – gehört  zu dem Bestandteil vieler Menschen. Auch zu meinem. Und den „Alten“, die damit viel mehr aufwuchsen, sowieso.

Ich bin wiederum ein „Produkt“ meiner Erziehung. Ich bin mit den biblischen Geschichten groß geworden, wie heute die Kinder mit Disney und Minions. Ich liebe die Geschichten. Sie sind ein Schatz  für mich, den ich in meinem Herze bewege und bewahre.

Ich schaue auf ihren Namen. Martha heißt sie. Ich mag den Namen sehr. Eine Freundin heißt so, die ich sehr verehre.

„So ein schöner Name!“

„Auf keinen Fall,“ widerspricht sie und lobt indes meinen Namen, den ich mit den Jahren zu mögen lernte.

„Was bin ich mit dem Namen früher immer verarscht worden. Das steht ja auch in der Bibel: Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe…“

„… Eins aber ist Not. Maria hat das gute Teil erwählt. Das soll nicht von ihr genommen werden.“, ergänze ich fast automatisch.

Sie kichert wieder. Es ist, wie wenn ich mit meinen Kindern heute Luis de Funes spiele:

Immerwährend: Nein. Doch Ohh!

Ein Blick in die Augen: Wir verstehen uns.

Wir reden über die Geschichte aus der Bibel, die wir beide nicht nachvollziehen können, über Namen, Hausfrauendeppenjobs, Kinder und Trubel in der Bude.

„Es war mit ein Vergnügen!“, bedanke ich mich zum Abschied. „Und mir erst!“, antwortet sie.

Wir sind miteinander verbunden. Und das ist das Schönste, was man in der Begegnung mit Menschen haben kann.

„Du immer mit deiner Alltagstheologie“, sagt eine Freundin, als ich davon erzähle. „Ich möchte mal wissen, wie du das machst.“

Sie grinst. Sie ist Theologin.