„Ach Gott. Dieser Blazer tut aber auch gar nichts für dich!“, rief Kevin bekümmert aus.

Er lehnte mit einer Pobacke am Schreibtisch, die Beine dabei graziös übereinandergeschlagen. Seine 7/8 Hose betonte die schlanken, haarlosen Beine. Eine Hand in der Tasche, die andere lässig an die Schreibtischkante gestützt. Das lila Polo- Shirt lässig in die Hose gesteckt. Gestopft wird hier nichts!

„Und wie der überbügelt ist!“ Die Augen dehen sich dabei leicht nach oben! Meine Güte. Stümper überall und allenthalben.

Ich wusste noch nicht mal, dass man Kleidungsstücke überbügeln kann. Überbügeln! Was es nicht alles gibt!

Die Kollegin, die mit luftig aufgestecktem Haar daneben saß, seufzte ebenfalls. „Hatten wir das nicht schon besprochen?“ Sie stöberte in den Unterlagen. Diese unzuverlässigen Lieferanten aber auch! Nichts als Ärger mit dem Pack. Und dann würden „sie auch noch frech kommen!“

Ich stand in der Mitte. Eine atmende Kleiderpuppe. Plus Size. „Lass die Arme mal hängen. Hm. Und jetzt winkle sie mal an. Wird auch nicht besser.“

Rückblick.

„Hömma. Willste Model werden? Meine Freundin sucht dringend Models zur Anprobe“. An einem feuchtfröhlichen Abend unter dem Motto:  Katheter müssen laufen, Krankenschwestern können saufen, sagte ich zu.  Warum auch nicht? Für eine neuerlicher Karriere ist es nie zu spät, dachte ich mit etwas langsameren Hirnsynapsen.

Umso überraschter war ich, als mich drei Tage später eine freundliche Frau anrief, um nachzufragen, ob ich wirklich und wahrhaftig einmal zu Anprobe kommen möge.  

„Warte in der Lobby auf mich, ich hol dich dann ab!“

So saß ich also ein paar Tage später ich in der Lobby auf fresh and fancy Sitzgelegenheiten. Würden diese Sackähnlichen, weichen und riesigen Sofas in meiner Stube stehen, wäre die einzig richtige Möglichkeit sie zu „besitzen“, sich der Länge nach draufzuwerfen und zu lümmeln. Hier aber erschien es mir deplatziert. Erste Eindruck und so. Ich hatte auch für dieses Möbel definitiv nicht die passende Klamotte an: Statt schick eher so „von einem langen Arbeitstag kommend“. Die geliebten Flip-Flops an den Füßen, statt High Heels. Verdammt. Eine Damen werde ich nie. Hildegard Knef wusste es schon immer.

Immerhin hatte ich 15 Minuten Zeit, eine vernünftige Sitzposition hinzubekommen. Ich schaffte es nicht. So stand ich auf und schaute aus den übergroßen, bodenlangen Fenstern auf gepflegte, langweilige Rasenflächen.

„Ich saß schon den ganzen Tag!“, entschuldigte ich mich mit der Attitüde eines gescheiterten Mr. Bean den schicken Empfangsdamen mit dem dezenten Make-Up einer Flugbegleiterin.

Schließlich holte mich Susi ab.

Ich folgte ihr sehr, sehr langen Gänge. Viele hippe, schöne, schlanke Menschen kreuzten unsere Wege. Smart, fresh, erfolgreich, modisch, kreative. All das kroch ihnen schier aus jeder Pore.  Sucht euch – liebe Freundinnen und Freunde – etwas davon aus. Oder auch alles. Sie waren jedenfalls all das, was ich an diesem Tag definitiv nicht war.

Molly Mops und ihre Freundinnen

Aber ich war ja auch für die Puls Size Abteilung gebucht, die auch in diesem Hause hergestellt wird Oder wie meine Schwester immer zu sagen pflegt: Die Molly Mops Abteilung.

Nicht immer ist ein Nachteil, mehrere Pfunde zu viel auf den Rippen (und nicht nur da!) zu haben, werte Leserinnen und Leser.

Ich gedacht meinen am Jahresanfang gefasste Gedanken: „Nicht den Mangel, sondern die Fülle zu verwalten“ hier umzusetzen. Bingo.

Wo, wenn nicht hier, wann, wenn nicht jetzt!

Und wann bitte schön, hat man Gelegenheit, in einer völlig anderen Welt einzutauchen.

Susi vermaß mich. Sie war bekümmert, festzustellen, dass ich etwas zu schlank um die Hüfte wäre. Ganz acht Zentimeter würde zu ihrem Glück, bzw. zum passenden Maß fehlen. Acht Zentimeter. Ich war fast untröstlich. Wenn man überall Normmaße hat, ist es erfrischend irgendwo acht Zentimeter zu wenig (!) zu haben.

Ob man sich mit einer Polsterhose für mich behelfen könne? Schwierig!

Gudrun schaute ums Eckt. Endlich ein Mensch. 180 cm groß, und ungefähr auch so breit, zauselige Haar, entsprach sie so gar nicht all den schönen Menschen, die ich bisher in diesem Laden gesehen hatte. Ich mochte sie vom ersten Augenblick.  „Mei!“, sagte sie in breitestem Dialekt. „So san halt unsere Kunden. Da gibt’s kei Norm!“

Harte Liebe. Dennoch: Die Acht Zentimeter. Sie seufzten.

Man wollte es mit mir probieren. Ich jubilierte innerlich. Ich sah mich glücklich eine schöne Klamotten nach der anderen überwerfen. Die schönsten Muster schenkte man mir in grenzenloser Liebe und Großzügigkeit. Endlich würde aus deinem Jeans, Shirt und Flip Flop Weib eine gutangezogenen Lady werden. Schick, fresh und fancy. Wie alle hier. Im Herbst würde ich mir mit modischen Schick selbst ein Tüchlein um den Hals knoten können. Influencerin würde ich für dieses Label werden. Alle wären glücklich. Was für eine Zukunft! Alle Krankenschwestern, GUKS und wie sie alle in Zukunft heißen, würden bei diesem Label kaufen, weil ich es repräsentieren würde…. Swipe up und so. OMG. Schnell mein Fläschchen.

Das Leo- Print Kleid jedenfalls kaufte ich mir zwei Tage später im Online Shop. Ich fand, ich hätte nun das richtige Alter für Leo Print. Gerafft in der Taille mit Chiffon. Ich fand mich wunderschön. Selbst Flip- Flops konnten der Schönheit keinen Abbruch tun.

Eine Woche später fand ich mich zur erste Musterprobe ein. Dachte ich zunächst an ein “ Ich- tun- einer- Freundin-einer -Bekannten-einen-Gefallen-und -kommen-mal“, war das Ganze hier als richtiger Nebenjob gedacht. Einmal in der Woche Musteranprobe. Mit einer „Dünnen“ zum Vergleich. Mops gegen Normal. Damit man sieht, ob das Musterstück auch allen passt. Löblich.

Sandy saß schon da, kaute Kaugummi und sollte mich „einarbeiten“:

„Na, halt anziehen und stillstehen“.

„Ach so! Geht klar“

Die ersten Damen und Herren kamen mit fünf „Plünnen“ auf der fahrbaren Kleiderstange. Inklusive des Balzers, der so „gar nichts für mich tat“. Anziehen. Stehen. Fotos von allen Seiten. Geplauder zuhören.

„Also meinst du zwei Grad mehr? Knopf höher oder nicht?“ Also für mich gabs ja nichts zu essen. Die haben das Fleisch aus meinem Essen herausgefischt und dann wars vegan Das war echt doof. Drei Kilo habe ich abgenommen. Was? Die Ärmel doch kürzer? Wie hatten wir uns das denn gedacht? Also ich weiß nicht. Nein Spanien ist nichts für mich. Ich dachte, Ibiza wäre fortschrittlicher…!“

Ich schwitzte.

Kevin ließ die Klimaanlage anstellen. Die „Kinder“ arbeiteten den ganzen Tag in kühlen Räumen. Ich kam aus 30 Grad im Schatten von außen und schwitze und dampfte nach. Ohne jede Möglichkeit, einen Scherz zu machen (so gut kannten wir uns noch nicht), geschweige denn, fröhlich das Lied von Marius Müller Westerhagen „Dicke schwitzen wie die Schweine“ anzustimmen – ohne dass es komisch gekommen wäre. Auch eine Schaufel, um mir vor Peinlichkeit ein Loch zu graben, gab es nicht.

Ich kam mir vor wie „Herr Müller“ mit seiner oberen Sprunggelenksfraktur. Von Herr Müller existiert nur das Bein. Ausschließlich Bein. Knochen, Sehnen, Muskeln und Fleisch. Der Rest fehlt in der Wahrnehmung. Der Kopf ganz oben, der wissen möchte, was „unten“ gesehen wird, was er nicht sieht: Fehlanzeige. Wie oft hab ich es miterlebt und auch selbst um irgendein Körperteil herumgestanden, ohne den Menschen darum wahrzunehmen. Shame on me.

Nun war ich Körper. Ohne Seele. Mit ganzen acht Zentimetern…. aber das hatten wir schon. Eine sehr interessante Erfahrung, die ich nicht mehr missen möchte.

Meine Güte. Und was warebn das für Plünnen – wie meine Omma gesagt hätte. Im Katalog sahen sie so super aus! Hier Marke: Nun – zu einer Beerdigung eines sehr weit entfernten Bekannten könnte man diesen schwarzen Lappen tragen.

„Ach so. Zur Betreibsweihnachtsfeier? Ja. Klar. Warum nicht!“, log ich höflich.

Was hätte ich in dieser Zeit Sinnvolles anfangen können. So stand ich dekorativ herum und langweilte mich ab der siebenten Klamotte fürchterlich. Ich war aber auch undankbar. Geld gab es immerhin auch für „Herumsetehen“. Über dem Mindestlohn. Hallo! Und ich dachte an verschwendete Zeit.

So super Langweilig hatte ich mir das nicht vorgestellt. Wie sonst, hätte ich allerdings auch nicht sagen können. Die Leute waren nett, die Arbeit nicht schwer oder gar anspruchsvoll. Alles fein.

Und doch fehlte mir die Sinnhaftigkeit. Mehr Fashion. Mehr Glamour. Mehr irgendwas Unbestimmtes. Mehr Ich selbst sein. Keine Ahnung. Wollte ich das?

Ivh war unzufrieden, ohne genau zu wissen, warum. Schlecht gelaunt.

Bis heute weiß ich nicht, warum eigentlich.

Ich hatte einen Einblick in einer mir fremde Welt, die ich nicht missen wollte. Eine Welt, die für den schönen Schein zuständig ist. Die nicht nach dem tieferen Sinn fragt und sich ärgert, wenn Kleidungsstücke überbügelt sind. Ich dachte, es kann nicht schaden, wenn ich das erleben darf. Nicht immer am Knorpel des Lebens nagend, sondern Schönheit erlebend.

Die Entscheidung, ob ich das weiter machen möchte oder nicht wurde mir abgenommen. Mir wurde abgesagt. Wahrschielich hat sich zwischenzeitlich jemand gefunden, der über acht Zentimeter mehr zum Glück verfügt.  Und soll ich euch was sagen: Ich bin glücklich, Ich muss nicht länger nachdenken, ob ich das will oder nicht. Ich muss nicht mehr grübeln, ob es mich auf Dauer nicht froh macht.

Wenn man älter wird, ist es Gnade, neue Erfahrungen zu machen und mit Aufräumtante Marie Kondo zu sprechen: „Was dich nicht glücklich macht, kann weg!“

Und so endete meine Molly Mops Karriere schneller als gedacht.

Es ist gut so!