Wann immer ich sensationelle sowie geistreiche Geschichten aus und über die Notaufnahme veröffentliche, kommen Nachrichten, Kommentare und Anmerkungen von euch. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön für eure Gedanken und Geschichten. Manches lese ich und denke: „Jo. Da könnste auch mal dran denken das nächste Mal. Kann nicht schaden! So könnte man das auch machen/denken/ändern/loben*what ever*.

Ich lese auch: Manche Kollegen scheinen richtige Aschlöcher  Dumpfbacken Bitches – also nicht so recht kompetent und freundlich zu sein.  Andere hingegen sind großartig und wissen das richtige zur richtigen Zeit zu tun. Alles ist möglich in einer Klinik. Und wie im richtigen Leben gehört auch leider manchmal etwas Glück dazu, auf den Menschen zu treffen, der „zu einem passt“. Das ist in einem Krankenhaus natürlich wichtiger als an der Supermarktkasse. Aber so ist es leider.

 


 

Manche haben gefragt, wie man die „Lappen“  von denen unterscheiden kann, die wirklich krank sind.

Man nennt es Erfahrung.

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Erfahrung setzt sich aus vielen Kleinigkeiten zusammen. Bildquelle: Pixabay

 

 

Dazu gehört Krankenbeobachtung.  Menschenkenntnis. Zusammenhänge erkennen. Die richtigen Fragen stellen. Zuhören. Im besten Falle sich nicht sofort ein Bild machen zu wollen, sondern erst mal abwarten, wie die Dinge sich entwickeln.

Aus all diesem entsteht ein Bild.

Patienten/-Krankenbeobachtung hab ich mit der ersten Stunde meiner Ausbildung eingeimpft bekommen. Möglich, dass das heute anderes – oder nicht mehr so wichtig ist. Tatsächlich frage ich oft die Schüler:

Was siehst du.

Was riechst du?

Was spürst du?

Was fühlst du?

Was ist komisch?

Was siehst du nicht?

 

Und dann schauen sie meist ein bisschen ratlos, weil sie keine Ahnung haben, auf was ich hinaus will. „Wie  – was soll ich sehen? Rosa Kacheln? Blauer Bademantel?“

(Vielleicht haben sie auch Angst, dass es wieder einer meiner Ulks sein könnte, auf den sie gerade hereinfallen. Diese Peinlichkeit immer mit der Notaufnahmeschwester…)

Aber tatsächlich ist mir selten etwas ernster.

Das genaue Hinschauen ist so wichtig. Es ist das Profiling der Krankenpflege.

Und schon nach knapp 30 Jahren Berufserfahrung setzt sich innerhalb von Sekunden ein Bild zusammen. Wie ein Scanner läuft das ab:

Das fängt damit an, wie eine(r) „Guten Morgen“ sagt (fröhlich, gepresst, depressiv eingefärbte Stimme, hauchend, stöhnend, gar nichts – hubs!)

Es geht weiter mit der Farbe der Haut (fahl, bläulich, rosig, käseweiß, rot).

Wie jemand auf einen zu läuft ( beschwingt, eingeschränkt, hinkend, schleppend, gar nicht) .

Was eine( r) erzählt und wie er/sie/es erzählt.

Und viele Kleinigkeiten mehr.

Bei „Deutschland sucht den Superstar“ setzt sich ein Bild innerhalb von kürzester  Zeit zusammen. Da weiß man nach spätestens 30 Sekunden ob jemand super singen kann, oder lieber nur alleine unter der (Schallschutz-) Dusche trällern sollte.

Ich sehe, fühle, rieche, höre Krankheiten, noch bevor ich manchmal überhaupt weiß, was der Mensch tatsächlich hat. (Schmecken tue ich sie nicht. Das lehne ich strikt ab Örks!)

Manchmal erkennen wir „Krankheiten“ an der Sprechanlage, noch bevor wir den Menschen dazu gesehen haben.

Wir hören, ob sie die Pille danach wollen. Wir hören am Klang der Stimme, ob sich der Patient selbst verletzt hat und manchmal auch schon,  wie viel oder wie tief. Ebenfalls an der Stimmfärbung und Stimmschwankungen hören wir Verletzungen „untenherum“, die nicht freiwillig entstanden sind.

In diesem Fall bin ich Tyrion Lannister der Notaufnahme.

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Bildquelle: Arkansas Graphix

Das sind Nuancen, die erfahrenes Pflegepersonal allein schon am Klang hören können.

Ich sehe in der Stadt im Vorübergehen Bluthochdruck,  erkenne Patienten mit COPD, mit Schlaganfällen und mit Beckenschiefstand sowie schlimmer Hüfte. Ich sehe mehr, als mir bei Fremden lieb wäre.

 

 

Das – wie schon erwähnt – ist langjährige Erfahrung.  Es hilf wiederum, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Wer bei uns nicht die Erfahrung hat, kann die „Alten“ zur Rate ziehen und hat als Art Sicherheitsnetz die Ersteinschätzung (Manchester Triage), die wir bei jedem Patienten vornehmen.

Und ja – selten kommt es auch mal vor, dass man sich verschätzt hat.

Wie bei einem unsere Drehtürpatienten. Ich schrieb mal über sie. Hier.

Eines Tages war er morgens um fünf Uhr mal wieder da. Wie immer weit weg im Schlummer-Alkohol-Drogen-Modus. Unter einer Parkbank fanden sie ihn. Zerbrochene Flaschen um ihn. Vielleicht war er auch vermöbelt worden. Die Nase war jedenfalls ein bisschen blutig – der Rest wie immer. Schnarchend und stinkend. Nicht ansprechbar.

Tags zuvor meinte ich ihn, in der Stadt gesehen zu haben. Da pöbelte er Frauen „du blöde Fotze“ hinterher. Aber sicher war ich mir nicht. Ich hätte ihn nackt sehen müssen. Eben so, wie ich ihn immer sehe. Horizontal und ohne Hose. Ich hatte ihm schon so viele Katheter gelegt wegen Drogentests, dass ich ihn am Penis garantiert erkannt hätte.

So lag er also mal wieder da. Alles wie immer. Wir uns hielten uns die Nase zu, als wir die verschimmelte feuchte Hose vom Leib „quietschten“ und die Stinkesocken vom Fuß pellten.

Der Arzt, der ihn – oh Wunder – noch nie gesehen hatte, ordnete eine Computertomographie vom Hirn an. Der Standard bei unklaren Geschehnissen.

Die Kollegin und ich gähnten. „Na – wenns sein muss!“

Wir fanden es eher unnötig. Er war wie fünfmillionen gefühlte Male davor auch. In drei Stunden würde er wie Dornröschen aufwachen, alle ein bisschen beschimpfen, sich alle Schläuche abreißen, jede Menge Sauerei dabei machen und wild zeternd das Krankenhaus mit seinem „beschissenen Personal“ verlassen und zu seiner Parkbank/Kumpels/ Höhle zurückkehren.

Er hatte eine große Blutung im Hirn mit Mittellinienverschiebung. Er wurde zum Schutz intubiert und mit HuiHui in die Neurochirurgie verlegt. Seitdem haben wir ihn bisher nicht wieder gesehen. Sein Kumpel aus „Pam oder Liebe“ hat ihn bisher auch nicht wieder begrüßt.  Und ganz heimlich machen wir uns Gedanken über ihn, was wohl aus ihm geworden ist.

Man kann sich irren. Das ist unfassbar dämlich. Schlimm. Lässt einen nicht los und noch wachsamer und aufmerksamer werden.

Bisher habe ich es immer wieder erlebt, dass es Rettungsanker gibt.

Die Kollegen, das „System“, die Technik.

Das ist mir ein Trost, wenn ich daran denke, dass ich selbst jederzeit auch in eine  Situation kommen kann, wo ich falsch eingeschätzt oder beurteilt werde. Ich hoffe dann auf die !“Erfahrung“. Und auf Kraft der Gemeinschaft des Wissens.