Sieben Uhr am Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen – wohl aber die Tür der Notaufnahme. Der Rettungsdienst brachte ein bekanntes Gesicht. „Da isser mal wieder!“

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Ach du liebe Zeit!

Wir kennen uns gut über die Zeit. Manchmal kommt er dreimal die Woche. Manchmal einmal im Monat. Naja – was heißt hier „kommen“: Er wird selbstverständlich gebracht. Gerne mit dem vollen Ballett, bestehend aus Rettungsdienst, Notarzt, Praktikant und Kumpels.

Meistens bekommt er den ganzen Aufwand nicht mit, weil er bewusstlos ist . Sind es die Drogen? Der Unter- oder überzucker bei seinem Diabetes Typ 1? Gar die Drogen? Pöh. Das weiß erst einmal keiner.

Manchmal krampft er auch noch ein bisschen dazu. Oder hat fürchterliche Bauchschmerzen. Irgendwas ist immer.

Am Anfang kennt man sich noch nicht so gut. Aber dann mit der Zeit. Immer besser. Mehr als einem lieb wäre.

Aber der Reihe nach.

Das Bürschlein – er ist Anfang zwanzig – lag mit geschlossenen Augen auf der Liege- im tiefen Schlummer. Es roch ungut. Beim Umbetten auf die Krankenhausliege öffnete er wie Dornröschen nach einem langen Schlaf die Augen und fing zu zetern an. Sein blöder Bruder wäre schuld, weil er den Rettungsdienst geholt hätte. Nun wären sein Handy und alles und überhaupt noch in der brüderlichen Wohnung. Was für eine Scheiße!.

Wahrscheinlich hatte er Bruder Angst bekommen. Der Blutzuckerwert war über 500. Möglicherweise war er besorgt. Oder hatte Angst, dass das er Scherereien macht. Oder fühlte sich in seinem eigenen Drogen/Alkoholexzess gestört. Wer weiß das schon. Wie wunderbar, dass man hier problemlos in Not überall und allenthalben jemanden anrufen kann, der den Bruder abholen kommt und sich nicht selbst kümmern muss. Oder – Gott bewahre – vorher denken oder handeln  müsste: Bruder: Lass die Finger vom Alkohol/Drogen. Das haut deinen Zucker durcheinander. Und überhaupt.

Der Geruch kam übrigens von seiner vollen Buxe. Um es mal umgangssprachlich zu schreiben: voll reingeschissen.

Und überhaupt: Er bräuchte jetzt erst einmal eine Dusche! Was? Hier gibt es keine? Scheißescheißescheiße.

Und pinkeln müsste er.

Wir gingen zusammen aufs Klo. Ich reichte ihm Waschläppchen an. Eine Unterhose Modell: „Netzhose – wie bist du so sexy“. Und einen Einmalhose L, die an seiner mageren Gestalt herumbaumeln würde. Aber besser so, als vollgeschissene Buxe.

Innerhalb von wenigen Minuten schaffte er es, ein Klo einzusauen, dass der Reinigungsperle der Angstschweiß ausbrach. Koordination war an diesem Morgen aus. Er erinnerte mich dabei ein bisschen an meine Katze, die auch immer genau auf den Teppich kotzt, anstatt auf den blanken, abwaschbaren Boden direkt daneben.

Er ging dabei nicht wirklich gründlich vor, denn als er die Netzhose anzog, war sie hinten schnell wieder – oder immer noch –  braun. Hilfe wollte er auf keinen Fall. Irgendwie war es ihm möglicherweise auch ein bisschen peinlich. Aber höchstens ein bisschen.

Und dann wollte er gehen. Sofort. Zucker hin – Alkohol und Drogen her. SOFORT. „Ich kenne meine Rechte!“

Eigentlich will er immer sofort gehen. Da kommt er mit dem Rettungsdienst angekutscht, um in der Notaufnahme wachzuwerden, festzustellen, dass  – meinetwegen – das Handy nicht da ist. Dann muss er weg und es holen. Laut weinend über den schrecklichen Verlust und die Unfähigkeit aller, weil keiner in der Notfallrettung daran  gedacht hat, ihm sein Zeugs einzupacken. Ach was sag ich: weinen ist nicht das richtige Wort. Es ist eher ein greinen. Da tropft das ganze Gesicht von Tränen, Rotz, Spucke. Herzzerbrechend – beim ersten Mal. Und obwohl er vorher ganz schrecklich krank war und ist – geht er. Heimlich. Oder auch mit Erlaubnis. Plötzlich genesen in heiliger Mission.

Ich holte Insulin. Die Ärztin war für zehn Einheiten. Er fand neun Einheiten besser. Spritzen wollte er selbst.“Das kann ich besser!“ Er hampelte mit der Spritze herum, dass ich schon fast dachte- gleich sticht er sich das Auge aus. Wie bei meinem Kindern stand  ich daneben- um notfalls eingreifen zu können. Falsch – meinen Kindern hätte ich so ein Verhalten nicht gestattet. Wer säuft, drogt oder sonst schlecht drauf ist, hat sein Mitspracherecht verwirkt. Hier bei: „Ich- kenne-meine- Rechte-Mister“  kannste nicht die Mutti spielen. Eher so die Krankenschwesternbitch.

„Wir“ haben es hingekriegt.

Dann wollte er einen Taxischein nach Hause. Zum Bruder. „Umme fahren“ auf Kosten der Krankenkasse.

Nun. Die Ärztin zog Luft durch die Zähne. Wer selber gehen möchte, kann das gerne machen. Aber nicht wieder auf Kosten anderer.

Heul, grein, zeter.

Scheißescheißescheiße.

Das Bürschlein beschäftigte drei Menschen gleichzeitig. Und später auch den ganzen Tag noch. Denn nach Hause schaffte er es nicht ganz. Dafür fiel er zu oft um und wurde mehrmals wieder vom Rettungsdienst gebracht. Holla! Drehtüreffekt.

Die Betreuerin versprach, jemanden vorauszuschicken, der ihn abholen würde. Mutti gibt es nicht. Scheinbar hat sie schon vor Jahren den Kontakt abgebrochen. Das ist sehr traurig. Einmal habe ich ihm zugehört, wie er mit ihr telefonierte. Er wollte ihr erzählen, dass er sich den Arm verknackst hatte. Er legte auf und die Augen waren tieftraurig. Wie gebrochen – dunkel vor Kummer. Er zählte, dass Mutti das Ganze abgetan hatte mit einem: „Stell dich nicht so an. Selber schuld!“

Wie heißt es bei Narziß und Goldmund von Hermann Hesse?

›Aber wie willst du denn einmal sterben, Narziß, wenn du doch keine Mutter hast? Ohne Mutter kann man nicht lieben. Ohne Mutter kann man nicht sterben.‹

Das ist das Dilemma im Leben vom Bürschlein. Keine Halt. Zuviel Drogen, Alkohol, dazu eine Krankheit, die das Ganze noch potenziert. Keiner hat ihn lieb-  den Spack.

Und genau das wäre es, was er am dringendsten bräuchte.

Das Dilemma aller, die ihn als Patient bekommen, ist: du weißt nicht, ob du ihm mal eine ordentliche  „Rennschelle“ verpassen solltest, damit er aus seinem Dasein aufwacht – oder ob du ihn dir mal vier Wochen vor den Bauch binden sollst, damit er Geborgenheit kennenlernt. Einen Halt – jenseits von betäubenden und berauschenden Substanzen, die sein Leben hin und wieder bunt machen sollen.

Du siehst den kleinen Schnulli und bis voll des Mitgefühl. Gleichzeitig geht er einem unfassbar  auf den Zeiger.

Dazu kostet er eine Gesellschaft viel, viel  Geld. Rettungsdienst, Notarzt, Krankenhaus, Intensivbett, wenn er mal nicht aufwachen will aus seinem Rausch. Therapie bei seinem Diabetes.

„Das müsste er alles selbst zahlen!“, sagt die Sanitäterin. Yo. Nur wovon? Einen Job hat er nicht. Gelernt auch nichts. Wie und wann auch. Wie also wollte er das zahlen. Die drei Kröten, die er hat, teil er sich gut für sein zweifelhaftes Vergnügen  ein.

„Arbeitslager!“, sagt der Nächste.  Puh. Das hatten wir schon mal. Die Idee war schon damals nicht wirklich brilliant.

„In anderen Ländern wäre er schon tot!“, sagt ein Anderer. Möglich. Aber da ist er nicht.

Er fällt aus allem heraus. Dabei ist er gesegnet mit einer unglaublich netten Betreuerin, die sich wirklich kümmert und müht. Aber es fruchtet nichts. Bisher.

Wir haben etliche solche Patienten. Immer wieder. Arme Schweine eigentlich, die nichts auf die Reihe kriegen.- außer saufen und Drogen nehmen. Manche schaffen es irgendwann tatsächlich. Andere siehst du irgendwann nie wieder. Jede Stadt hat sie. Durchs soziale Netz gefallen. Rums.

Und nun? Wie wollen wir damit umgehen – als Gesellschaft, als Personal? Wegsehen? Integrieren? Genervt die Augen rollen? Ihn doch vielleicht vor den Bauch binden und liebhaben?

Drei Tage später, nachdem ich mit einigen Menschen darüber geredet habe, weil es mich  so beschäftigt, denke ich: Das wichtigste ist das Bemühen, kein Arschloch zu werden. Ihn abzustempeln oder ankeifen. Solche Menschen mit ihren Problemen nicht ernstnehmen. Und Freunde –  ich sage euch: Das ist schwerer, als es sich liest. Aber wenn der Kleine nüchtern ist, ist er ein ganz netter Kerl. Da steckt viel Gutes in ihm drin. Liebenswertes. Hoffnungmachendes.

Da kennen wir auch ganz andere Gesellen, die agressiv und gewalttätig  sind oder einfach nur dämlich- man kann es nicht anders sagen. An deren Liege du stehst und den Telefonhörer am Anschlag hältst, um die Polizei zu holen- wenn es Not tut. Die gibt es auch in Hülle und Fülle.

Aber der Kleine gehört nicht dazu.

Bis er das nächste Mal kommt. Hackedicht mit irgendwas. Sabbernd und greinend.

Und du dir wieder denkst: Alta! Erbarmen. Mit mir/ uns und dem kleinen Spack!

 

 

*PAM ist übrigens das Kürzel für: Paar aufs Maul.